Bibelarbeit über Hiob 2 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) in Dortmund

Hiob 2,7-13

„Was der Plan ist, wer kann das schon sagen. Ob es irgendwo doch einen gibt?“

Diese Liedzeilen der Band „Kreuzweise“ führen schon mitten hinein in die Bibelarbeit heute Morgen über das Buch Hiob.
Noch einmal von mir ein herzliches Willkommen. Schön, dass Sie da sind, um sich auf diesen in der Tat sehr herausfordernden und schwierigen Text einzulassen. Ein Bibeltext der, wenn man ihn länger wahrnimmt, ungeheuer an Tiefe und Weite gewinnt.
Vorneweg ein paar Sätze zu dem Buch Hiob. Ein Buch, das wahrscheinlich entstanden ist im 4. Jh. vor Christus. Ein Buch, das sich mit den Lebensfragen beschäftigt, die bis heute Sie und mich und uns umtreiben:
Was bleibt eigentlich einem Menschen, wenn ihm alles genommen wird, worauf er sein Leben gebaut hat? Was bleibt eigentlich, wenn Gott – wenn man denn an ihn glaubt – wie ein Feind begegnet? Was bleibt, wenn Gott schweigt?

Ich vermute, dass Sie folgende Sätze kennen, die der sogenannte Volksmund geprägt hat:
„Von nichts kommt nichts.“
„Jeder bekommt, was er verdient.“
„Unrecht Gut gedeiht nicht. „
„Jeder ist selbst seines Glückes Schmied.“
Dahinter verbürgt sich die Erfahrung und die Denke: wer Gutes tut, wer sich angemessen verhält, der wird irgendwie im Leben belohnt.
Ist man engagiert, fleißig, den Leuten zugewandt, dann wird man irgendwann die Karriereleiter nach oben klettern. Und wenn man sich unangemessen verhält, dann wird man schon merken, was man davon hat: Wenn jemand abends mit 2,5 Promille Auto fährt, der muss sich eben nicht wundern, wenn er am Laternenpfahl endet…
Von nichts kommt nichts.
Die Theologen nennen das „Tun-Ergehens-Zusammenhang“. Das, was ich tue, hat automatisch Folgen für mein Ergehen. Tun-Ergehens-Zusammenhang.
Nur: Wenn Sie aufmerksam hinsehen, das Leben wahrnehmen, auch das eigene Leben wahrnehmen, dann stellen Sie fest, dass diese Gleichung ja gar nicht aufgeht.
Die Gleichung geht nicht auf.
Helmut Schmidt, wahrlich bekannt als Kettenraucher, wurde weit über 90 Jahre alt. Von wegen Rauchen=Lungenkrebs=früher Tod.
Ein Freund von mir, mit dem ich regelmäßig Handball gucke bei TUSEM Essen (2. Handball-Bundesliga), stirbt plötzlich im April, irgendetwas mit der Lunge … Gesund gelebt, nie etwas gehabt, sich ordentlich ernährt, nie geraucht, getrunken – und ist tot mit Anfang 50.
Von nichts kommt nichts?
Ich bin mir sicher, Sie können alle ebenfalls Geschichten erzählen aus Ihrem Leben, wo Sie genau das erlebt haben: Diese Gleichung passt irgendwie nicht.
Diese Gleichung passt nicht. Und genau diese Beobachtung führt ins Grübeln, ins Fragen, zu diesem Buch Hiob.
Das Buch Hiob steht in der Bibel bei den sogenannten „Lehrbüchern“ – so die Lutherübersetzung – bzw. bei den Büchern in „dichterischer Form“ – so die Gute Nachricht Bibel. Weil das Buch Hiob keine historische Geschichte erzählt, sondern eher wie eine groß angelegte Lehrerzählung ist. Eine Art weisheitliches Gleichnis.
Dieses Buch fragt danach: Wie kann man das zusammenhalten: Da ist jemand fromm, da lebt jemand rechtschaffen, gut, ist echt ein toller Kerl – und dann erfährt er Not, Elend, großen Schmerz? Und man merkt: Dieser sogenannte Tun-Ergehens-Zusammenhang passt nicht.
Wie soll man das denken?
Das Hiobbuch beginnt so, dass Hiob vorgestellt wird wie ein Scheich aus 1001 Nacht. Große Familie, reich, erfolgreich, viele Tiere, viele Kinder, ein ganz starker Typ. Und dann – von jetzt auf dann: seine ganzen Herden kommen um, sein ganzer Reichtum verschwindet, seine Kinder sterben alle der Reihe nach, er verliert alles.
Alles. – Warum?
Im ersten Kapitel, in unserer Vorgeschichte für den heutigen Bibeltext, wird dann der Vorhang beiseite geschoben in einer Art gleichnishaften Erzählung:
Der Thronrat Gottes tagt – im alten Orient ein ganz geläufiges Bild, für uns heute völlig fremd. Gott hält Rat mit seinen Engeln, mit seinen Boten, mit den Gottessöhnen. Und sie überlegen, wie es so auf der Erde aussieht. Und einer dieser sogenannten Gottessöhne ist der Satan.
Der wird übrigens im Alten Testament nur vier Mal erwähnt. Ist also gar nicht der Rede wert…Und er hat auch gar nicht die Rolle, die man ihm im Mittelalter, ja z.T. bis heute zuträgt.

Der Satan ist eine Art Studieninspektor, eine Art Staatsanwalt. Er guckt: was gibt es für Missstände auf Erden? Und soll das Gott gegenüber zur Sprache bringen. Dieser kleine Angestellte sagt jetzt zu Gott: „Meinst du, dass Hiob dich umsonst fürchtet? Hiob glaubt doch nur an dich, weil es ihm so gut geht. Weil er reich ist, weil er erfolgreich ist, weil er alles hat, was er braucht….Wenn du ihm alles wegnehmen würdest, dann würde Hiob sagen ‚Und tschüss! Mit Gott kann ich nichts mehr anfangen’.“

Gott ist sich sicher, dass Hiob ihm aus lauterem Herzen Vertrauen schenkt. Und darum lässt er sich – so diese Erzählung – auf diese Versuchsanordnung ein. Der Satan kann Hiob alles wegnehmen. Reichtum, alle Viehherden, alle Kinder, alles weg.
Am Ende in Kapitel 1 heißt es da:
„Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“

Hiob bleibt bei Gott. Und das führt zu dem zweiten Kapitel. Satan, dieser kleine Angestellte, versucht, die Versuchsanordnung ‚daumenschraubenmäßig’ anzuziehen. Er sagt zu Gott: „Ist doch klar, dass Hiob fromm geblieben ist. Weil es ihm ja nicht an sein eigenes Leben ging. Aber wenn es an sein eigenes Leben geht, wenn man Haut und Haar angreifen kann, dann wird er sagen: ‚Glaube, vergiss es! Ich verabschiede mich von Gott. Das wars’.“
Und Gott sagt: Siehe, Hiob ist in deiner Hand.
Und jetzt kommt der Bibeltext von heute Morgen (Wenn Sie mögen, können Sie mitlesen im Programmheft, Seite 84):

7 Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel.
8 Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche.
9 Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb!
10 Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.
11 Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten.
12 Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt
13 und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.

Generalangriff auf Hiobs Leben. Totaler Verlust seiner Lebenskraft, und vor allen Dingen Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz.
Hiob, vermutlich von Lepra geschlagen, muss draußen vor dem Stadttor, außerhalb der Dorfgemeinschaft, auf der Müllhalde sein Dasein fristen. Ausgegrenzt aus der Gemeinschaft der Lebenden. Aufgefressen vom Schmerz sitzt er da in der Asche.
Seine Frau, sie hält das nicht mehr aus. „Hältst du immer noch an deinem Gott fest? An deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab! Fluche ihm! Stirb!“

Wörtlich steht da, dass die Frau sagt: Segne Gott! Das ist total ironisch, total bitter. Denn sie meint natürlich: Fluche Gott! Läster ihm und stirb!
Stirb!
Weil der, der Gott flucht, muss sterben. (3. Mose 24)
Oder sagt sie: „Stirb!“, weil das Leben, das du hast, ist doch kein Leben mehr? Das kann man doch nicht mehr als Leben bezeichnen…Bring dich um!
Bei dieser zweiten Version, so könnte man das ja deutend übersetzen, stolpern wir direkt in eine Debatte, die hier auf dem Kirchentag geführt wird: Wie ist das eigentlich mit Sterbebegleitung, mit Sterbehilfe, mit assistiertem Suizid? Wann ist das angemessen und wann nicht?
Eine Frage, die hier bei Hiob schon unter der Oberfläche aufleuchtet. Sage Gott ab und stirb! Mach deinem Leben ein Ende!

Liebe Kirchentagsgemeinde, was ist das für eine Not für Hiob und für seine Frau, denn sie haben ja beide alles verloren. Beiden sind die Kinder weggestorben, beide sind völlig am Ende – und jetzt noch diese elende Erkrankung von Hiob.
Man kann daran spüren, dass existentielle Nöte immer auch eine große Not ist für Beziehungen, für Familien, für Ehen, für Partnerschaften. Weil: jeder und jede trauert anders. Jede und jeder geht anders mit Schicksalsschlägen um. Für die Frau von Hiob ist klar: Das reicht jetzt! Schick diesen Gott in die Wüste! Da ist jetzt Feierabend! Auch du, Hiob, solltest dich von diesem Gott verabschieden!
Und Hiob?
„Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Was ist das für ein Vertrauen, kann man fragen – positiv, ermutigend. Oder man müsste sagen: Was für ein blindes Vertrauen? Wie dumm…Wie bescheuert…!?
Was für ein Vertrauen ist das?
Für Hiob ist klar: Alles kommt von Gott! Es gibt für ihn keinen Dualismus, so nach dem Motto: Der schöne Urlaub ist von Gott, die Lungenkrebserkrankung ist vom Teufel.
Nein, sagt Hiob, alles hat mit Gott zu tun. Es gibt keine Macht, die größer oder stärker wäre oder die irgendwie Gott das Wasser reichen könnte. „Wir“, sagt Hiob ganz bewusst zu seiner Frau, wir haben es hier mit Gott zu tun. Auch mit unserem Reichtum, mit unserer Kinderschar, mit unserer Gesundheit… hatten wir es mit Gott zu tun. Und jetzt haben wir es ebenfalls mit Gott zu tun. Und: Wir können das beides nicht verrechnen, nicht logisch miteinander verknüpfen.
Der Theologe Ulrich Bach, der seit Kindertagen an im Rollstuhl sitzt, schreibt in einem seiner Bücher Folgendes – aus seiner eigenen, erlebten Sicht heraus:
Gott schafft beides, Leben und Tod, Glück und Elend, Gesundheit und Krankheit. Wenn es dir gut geht, sieh darin nicht eine Zusage Gottes. Wenn es dir schlecht geht, missverstehe das nicht. Denn das Evangelium lautet doch: Gott sagt sich uns zu als ein gnädiger Gott, der auf jeden Fall und in jeder Situation für uns da ist. An gesunden und an kranken Tagen, an frohen und unglücklichen Tagen.
Oder wie Paulus sagen würde: Nichts, nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes.
Hiob sagt: Haben wir Gutes von Gott empfangen und sollen das Böse jetzt nicht annehmen? Er wirbt bei seiner Frau darum, auch jetzt noch vor Gott zu leben, mit Gott zu leben, auch jetzt noch.
Die Frage ist: Ist das nicht unmenschlich? Überfordert Hiob sich nicht? Überfordert er seine Frau nicht? Ist das nicht für uns eine Überforderung?
Vor allen Dingen, wenn man noch den Nachsatz liest. Diesen kleinen Nachsatz hintendran: „In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.“
Da könnte man doch denken: Ist das nicht ein Duckmäuserglaube? Ein Kadavergehorsam?
Im Talmud heißt es zu dieser Stelle: „Hiob sagte kein Wort gegen Gott, aber in seinem Herzen, da sah es schon anders aus.“ Und von seinen Lippen klingt es bald auch anders. Denn Hiob wird Gott später Dinge sagen, die vor ihm noch kein Mensch im Alten Testament Gott ins Gesicht gesagt hat. Irgendwann platzt auch Hiob der Kragen.
Aber hier, bis hierhin, für uns schwer zu verstehen, sagt Hiob kein Wort gegen Gott. Nichts. Das ist schwer auszuhalten. Deshalb lasst uns innehalten.
Wir hören noch auf ein Zitat von Dorothee Sölle und dann hören wir erst einmal Musik, um innezuhalten, aufzumerken.
Dorothee Sölle schreibt:
„Es ist wichtig, sich Menschen vor Augen zu stellen, die bewusst gelitten haben. Leute, die wir kennen, die im Leiden gütiger und nicht bitterer geworden sind. Solche auch, die freiwillig Leiden auf sich genommen haben um anderer willen. Es gibt solche Menschen. Und die Stärke, die von ihnen ausgeht, ist der Trost der Heiligen.“
Merkwürdig…Zum Merken würdig. Zum Innehalten. Zum Nachdenken…
Wir hören Musik der Band „Kreuzweise“

„Feuer ohne Glut…Hiob auf seiner Asche, wo soll das hinführen?“
Die Erzählung richtet im zweiten Teil des Bibelarbeitstextes den Focus auf die drei Freunde von Hiob. Sie haben sich verabredet, um ihn gemeinsam zu besuchen. In der heutigen Zeit von WhatsApp und Co ja kein Thema…aber damals war das ein Wahnsinnsaufwand. Sich zu verabreden über diese Entfernung hinweg. Das heißt: diese Drei setzen echt was ein, weil ihnen dieser Eine, dieser Freund, so am Herzen liegt. Sie waren eins geworden, um ihn zu beklagen und zu trösten.
Sie waren eins geworden….
Im Buch Prediger (Pred 4,12) steht dieser wunderbare Satz: „Einer mag überwältigt werden, aber zwei können wieder stehen und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.“
Diese drei bilden eine dreifache Schnur. Einen Trägerkreis für ihren Freund Hiob. Je nach Not, je nach Elend brauchen Menschen in tiefen Krisen mehr als einen, die tragen und bergen, die da sind und helfen und trösten. Also eine dreifache Schnur…
Diese Drei machen sich auf, um ihn zu beklagen und zu trösten, heißt es hier. Im alten Orient gab es wunderbare Rituale des Beklagens, um seiner Verzweiflung, seiner Not Ausdruck zu verleihen. Gerade dann, wenn man keine Worte mehr hat:
Sie zerreißen ihre Kleider, sie werfen Staub gen Himmel und streuen sich Asche auf ihre Häupter. Für uns heute alles fremd, aber damals Rituale, die man kannte, die Ausdruck waren ihrer Bestürzung.
Ich habe mich gefragt, welche Rituale helfen uns eigentlich heute…Welche Rituale helfen Ihnen, helfen Dir bei schweren Wegstrecken, in großen Nöten?
Christina Brudereck, die auch hier auf dem Kirchentag unterwegs ist, erzählt in ihrem Buch über Rituale von zwei Frauen: Zwei Frauen, die ein Ritual für sich entdeckt haben, das ihnen hilft in schweren Zeiten. Diese beiden Frauen treffen sich einmal im Monat an einem freien Nachmittag. Sie stellen zwei leere Kaffeetassen auf den Tisch und legen zwei Hände voll Kaffeebohnen daneben. Und dann erzählen sie, was gerade in ihrem Leben da ist an Schwerem und Bitterem. Jede Kaffeebohne steht für ein solches Thema, für eine solche Frage, für eine notvolle Erfahrung: Kinderkrankheit, Überforderung im Beruf, schwere Erkrankung einer anderen Freundin, Streit zuhause oder was auch immer. Die beiden sitzen da, es wird geweint und geklagt, gewütet und getrotzt. Dann nehmen sie die Bohnen, die sie gesammelt haben, zermahlen sie und kochen sich Kaffee. Und während sie warten und der Duft schon lockt, segnen sie die zwei leeren Tassen. Wenn der Kaffee fertig ist, genießen sie und danken danach auch für das, was in ihrem Leben wunderbar und süß ist. Weil das Bittere und das Süße zusammengehören…
Rituale einüben, um auch in schweren Zeiten sich ausdrücken zu können. Kleider zerreißen. Staub gen Himmel werfen…
Als die drei Freunde kommen, erkennen sie Hiob nicht. Not, Krankheit verändert. Man ist manchmal erschrocken und man muss sich fragen: „Kann ich das noch ansehen? Oder flüchte ich?“ Die drei Freunde können das ansehen. Sie bleiben, weil sie gekommen sind, um ihn zu trösten.
Wörtlich steht da, um ihn zum „Aufatmen zu bringen“. Das ist das Ziel von Trösten, dass jemand aufatmen kann. Dass man den Druck rausnimmt. Dass er sein darf. Dass alles raus darf. Dass er sich nicht verstecken muss.
Wie machen die drei Freunde das?
Sie setzen sich zu Hiob auf den Boden. Sie bleiben nicht auf einer Beobachtungsstation von außen, sondern sie setzen sich zu ihm in diesen Müllhaufen, in diese Asche. Auf Augenhöhe. Wirklich solidarisch. Wirklich ganz nah dran.
Und dann heißt es da: „Sie saßen bei ihm sieben Tage und sieben Nächte ohne ein Wort zu sagen, denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war.“
Was sind das für Freunde!! Die setzen sich dahin und schweigen. Kein Geschwätz, keine blöden Erklärungsversuche, nicht irgendwie „Kopf hoch, wird schon wieder…“. Und sie reden auch nicht über Hiob.
Wie oft wird am Bett eines Schwerkranken über den Kranken gesprochen! Obwohl man weiß, dass das Ohr bis zuletzt alles wahrnimmt. Die Freunde schwätzen nicht, weder miteinander noch über Hiob noch sonstwas… sondern sie schweigen und halten aus. Und können diesen Schmerz des Hiobs ansehen.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist: Wenn ich etwas ansehe, dann gebe ich dem Würde. Ansehen. Die drei Freunde geben Hiob Ansehen, Würde, indem sie aushalten und das Ansehen seiner Not ertragen.
Was wäre das, wenn unsere Kirchen und Gemeinde Orte werden des Ansehens….Wo Leute angesehen werden, auch gerade in ihrer Not…!?!
Sie sahen, dass sein Schmerz groß war und redeten nichts mit ihm sieben Tage und sieben Nächte. Was sind das für Freunde!!
Und Hiob?
Hiob bekommt gerade dadurch, dass die Freunde nichts sagen, dass sie beim ihm aushalten und dass sie das ansehen können und dass sie ihm Würde schenken – dadurch bekommt Hiob neue Kraft.
Er bekommt neue Kraft. Und er bekommt Vertrauen. Er bekommt Vertrauen, dass er sich denkt: Hier ist ein Raum, da darf ich sein. Hier darf ich sein. So beginnt Hiob direkt nach dem gehörten Bibeltext zu Beginn von Kapitel 3 zu klagen. Weil er spürt – oder meint zu spüren: die Freunde eröffnen mir einen Raum, wo ich sein darf und wo auch Klage erlaubt ist.
Direkt nach dem Bibeltext geht es weiter in Kapitel 3:

Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt!
Jener Tag soll finster sein und Gott droben frage nicht nach ihm! Kein Glanz soll über ihm scheinen!
Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam?
Dann läge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruhe
Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen
Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen.
Ich habe keinen Frieden, keine Rast, keine Ruhe.

Ich weiß nicht, ob Sie das kennen – vielleicht auch hier gerade auf dem Kirchentag. Sie treffen jemanden, den Sie lange nicht gesehen haben… „Na, wie geht’s?“ Dann sagt Ihr Gegenüber: „Ich kann nicht klagen.“
Ich kann nicht klagen. Hiob kann klagen. Klagen ist nicht jammern. Jammern ist: vor sich hinleiden, alle sind Schuld und man verbittert… Klagen ist: es gibt eine Adresse. Es gibt eine Instanz, an die ich mich wenden kann. Da ist jemand, dem kann ich meinen Schmerz und meinen Zorn und meine Wut sagen. Ja, vor die Füße rotzen.
Hiob weiß um diese Adresse und diese Instanz. Hiob entlässt Gott nicht aus seiner Verantwortung. Er reduziert Gott nicht auf einen lieben, kleinen Gott. Sondern dieser Gott ist der Grund seiner Klage und zugleich seine Adresse.
Dieser Gott ist der Grund seiner Klage und zugleich seine Adresse.
Der Theologe Karl Barth hat geschrieben: „Hiob versteht Gott nicht. Er erkennt seinen Gott nicht wieder. Er sieht darin wohl Gott, aber gewissermaßen einen Gott ohne Gott. Das heißt, einen Gott, der nicht die Züge des Angesichts seines wahren Gottes trägt. Hiob zweifelt keinen Augenblick daran, dass er es mit diesem seinen Gott zu tun hat. Aber es bringt ihn fast von Sinnen, dass dieser sein Gott in einer Gestalt begegnet, die ihm schlechterdings fremd ist.“
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Psalm 22, ein Klagepsalm, wie so viele Psalmen.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus betet so am Kreuz. Noch einmal Christina Brudereck:
Mir das Klagen nicht verbieten am Nachmittag um Drei. Als Jesus von Nazareth starb. Für eine Stunde Rotz und Wasser heulen. Wüten. „Warum?“ schreien. In Gottes Schürze weinen. Mir das Klagen nicht verbieten. Und zugleich wissen: Ich bin mit meiner Frage nicht allein.
Ich bin mit meiner Frage nicht allein. Liebe Kirchentagsgemeinde, Hiob beginnt zu klagen ab Kapitel drei – und er versündigt sich damit nicht. Weil Klage elementare Äußerung des Glaubens ist, im Christentum wie im Judentum. Da wird über das Leid gesprochen, da kann man Zweifel aussprechen. Da wird drüber geredet, miteinander und vor allen Dingen mit Gott selbst.
Tomáš Halík schreibt: „Die dunklen Geheimnisse der Welt, die Schatten und Schmerzen nicht sehen zu wollen, ist kein Weg. Das Christentum in der Gestalt eines widerspruchslosen geschlossenen Systems oder eine oberflächlich lächelnde Religion von billigen Antworten, das geht am Evangelium von Christus vorbei. Vom Glauben erwarte ich nicht nur Antworten, sondern auch den Mut, im offenen Raum der Frage zu verharren.“
Das macht Hiob. Bleibt im Raum der offenen Frage, verharrt darin und klagt Gott.
Und seine Freunde, die ich gerade noch so gelobt habe, die können das nicht aushalten. Als Hiob so auf Gott eindrischt mit seinen Fragen und Klagen, werden die drei Freunde ungehalten. Es entspannt sich eine ganz schwierige Auseinandersetzung. Weil die Freunde anfangen zu sagen: „Hiob, Unheil hat immer einen Grund. Dass es dir nicht gut geht, muss daran liegen, dass in deinem Leben irgendwie Schuld vorgefallen ist…“
Je offener Hiob klagt und fragt, umso mehr bedrängen die Freunde ihn, er solle doch suchen, woran es liegt, was er falsch gemacht hat… Hiob platzt fast vor Wut. Und am Ende platzt Gott auch.
Gott platzt am Ende des Hiobbuches. In Hiob 42 sagt Gott: Mein Knecht Hiob hat mit seiner Klage richtig geredet. Aber ihr Freunde, die ihr immer geschwätzt habt, ihr habt falsch gesprochen…
Darum liebe Kirchentagsgemeinde: vor Gott alles ausbreiten. Sein dürfen. Auch die Leere und die Fragen ihm hinhalten. Alles das hat vor Gott Platz.
Mirko Kussin schreibt:
Trotz aller Zweifel an seinem Glauben festhalten wirkt auf viele Menschen naiv. Dabei ist es die wahrscheinlich anstrengendste Persönlichkeitsentwicklung, die man durchleben kann. Mit jeder Frage und jedem Problem tritt man vor die Leere Gottes. Tritt man mit seinem ganzen Sein vor dieses Schweigen. Man betet für Heilung und bleibt krank. Man betet für Frieden und sieht Nachrichten von lauter Krieg. Man betet um Antwort und hört nur das rauschende Blut in seinen Ohren und den Herzschlag und ein Pfeifen… Man bleibt anscheinend auf sich allein gestellt in der Leere. Aber, aber mit jedem Gebet wächst man auch ein wenig. Mit jeder Frage wird man immer mehr Mensch. Man reift. Und trotzdem bleibt der Glaube da, denn der Glaube fragt nach dem Wie, dem Warum, sucht nach Gründen und betet und lässt Gott dabei Geheimnis sein.“
Lässt Gott dabei Geheimnis sein.
Liebe Kirchentagsgemeinde, dass Hiobbuch hält Fragen offen. Auch diese Bibelarbeit heute morgen lässt Fragen offen. Weil das Thema so komplex und so schwer ist. Gleichzeitig gilt aber:
Dieser Hiob macht uns Mut, gegen alles an Gott festzuhalten – weil dieser Gott uns festhält. Und wenn wir nichts verstehen – nicht klaglos, nicht fraglos bleiben. Hiob stellt viele Fragen. Hiob wirft eben nicht alles über den Haufen, auf dem er sitzt. Weil er – trotz allem, in seinem großen Elend, in allem Schmerz – von diesem lebendigen Gott gehalten und getragen wird. Weil er in einem Grundvertrauensverhältnis leben kann, das für uns heute, durch Jesus Christus ein für alle Mal verbürgt ist.
Denn: seit Jesus, der lebendige Gottessohn, am Kreuz gerufen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, seit dem ist klar: es gibt keinen Ort mehr, der gott-los ist. Weil Christus immer da ist und unsere Fragen mitschreit und mitklagt. In Christus ist Gott da. Nur ein Gebet weit, nur einen Klageseufzer, nur einen Schrei weit entfernt.
Oder wie Bonhoeffer angesichts der ihm drohenden Hinrichtung schreibt:

„Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Amen.

Pastor Mag. theol. Lars Linder, Falterweg 50, 45279 Essen
Lars.Linder@web.de

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